Nothilfe

Ich bin kein Jurist. Ich hab keine Ahnung, wie Gesetze ausgelegt werden. Alles was ich kann, ist den Gesetzestext lesen und mir meine Gedanken dazu machen. Zum Beispiel:

Ich habe mir das Video „Polizei-Brutalität bei der Freiheit-Statt-Angst Demo 2009“ angesehen. Laut Pressemitteilung der Polizei wird gegen den Schläger ermittelt. Das ist richtig so und ich hoffe, dass ein paar Verurteilungen mit heftigen Strafen folgen. Ich glaube aber, hier sollten noch wesentlich weitere Kreise gezogen werden. Neben dem Tätern standen einige Polizeibeamte, denen das Geschehen wohl kaum entgangen sein kann. Soweit ich das sehen konnte, haben diese Polizisten nicht versucht, die Tat zu verhindern oder zu unterbinden.

In § 227 BGB steht: „(2) Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.“ Unter der Annahme, dass die gezielten Schläge ins Gesicht nicht verhältnismäßig sondern rechtswidrig waren, komme ich zum Schluss, dass alle Anwesenden in der im Video gezeigten Situation zur Nothilfe (Notwehr als dritter, also nicht Opfer) nach dem genannten Paragraphen berechtigt gewesen wären.

Hätten die Umstehenden zur Nothilfe schreiten müssen? § 323c StGB regelt, wann jemand zur Hilfe verpflichtet ist: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, […]“ Entspricht die Situation dieser Beschreibung?

Offensichtlich handelte es sich nicht um einen Unglücksfall (z.B. Unfall). Obwohl sowohl bei der gemeinen Gefahr als auch bei der Not an allen Stellen, die ich finden konnte, von „unbestimmten Vielzahl von Menschen“ die Rede war, gehe ich davon aus, dass bei der Bedrohung eines „bedeutenden Rechtsguts“ (in diesem Fall Leib und Leben des Opfers) auch bei einem einzelnen Opfer die Bedingungen für die grundsätzliche Pflicht zur Hilfeleistung erfüllt sind.

Im Video ist nicht nur ein einzelner Schlag zu sehen sondern mehrere. Die Bedrohung für das Opfer dauert auch dann noch an, als er zu Boden gegangen und nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu verteidigen. Er war spätestens zu diesem Zeitpunkt auf Hilfe angewiesen und ein Einschreiten dritter damit geboten.

Angesichts der Vielzahl an Umstehenden schätze ich die Gefahr für den Einzelnen, im Rahmen der Hilfeleistung verletzt zu werden als gering ein, wenn mehrere gleichzeitig einschreiten. Andere wichtige Pflichten (dazu zählt zum Beispiel die Sicherung des Luftraums bei einem Fluglotsen im Dienst) kann ich weder bei den Zivilisten noch bei den Beamten erkennen. Bei der Bewertung, ob dem einzelnen die Hilfe zuzumuten ist, zählen nicht nur objektive Gründe, es ist auch von Interesse, ob es aus Sicht des Einzelnen zumutbar ist, die Hilfe zu leisten. Den anwesenden Zivilisten kann man zu Gute halten, dass neben dem Haupt-Opfer mindestens ein Unbeteiligter verletzt wurde (blutende Wunde im Gesicht). Den Polizisten dagegen würde ich vorhalten, dass ihnen aufgrund ihrer Stellung eine Garantenpflicht obliegt.

Mein Vertrauen in meine Schlussfolgerungen reicht leider nicht, um gegen alle im Video sichtbaren Polizisten Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung zu erstatten, obwohl ich mir vorstellen kann, dass es aufgrund der Garantenpflicht zumindest für den einen oder anderen Polizisten für eine Geldstraft reichen könnte.

Vielleicht liest das hier ja ein Jurist, der das alles richtig bewerten kann, kommt zum gleichen Schluss wie ich und schreibt die Anzeige. So schön es wäre, wenn dadurch klar gemacht würde, dass nicht nur aktiv prügelnde Polizisten nicht akzeptiert werden, sondern dass auch jeder mit Strafe rechnen muss, der dabei wegsieht: Ich werde es nicht machen – bringt ja doch nix.